Drei T-Shirts auf einer Wäscheleine, die Kinder mit den Worten "Wir haben Rechte" bedruckt haben

"Kinderrechte sind leider in keinem Land selbstverständlich"

Seit über einem Jahr bieten Tina, Hamed und Ahmad als Referent_innen für das Landesjugendring-Projekt "Our Rights in Action" Workshops zu den Themen Kinderschutz und Kinderrechte für junge Menschen aus Unterkünften für Geflüchtete an. Zum Weltkindertag haben wir mit ihnen gesprochen. Ein Interview über Empowerment, fehlende Kinderrechte in Deutschland - und Corona.

Tina, Hamed und Ahmad: Wie würdet ihr die aktuelle Kinderrechtssituation in Berliner Unterkünften für Geflüchtete einschätzen? Hat Corona einen Einfluss darauf?

Die Entwicklungen um COVID-19 stellen alle Haushalte und Familien in Deutschland vor neue Herausforderungen. In Gemeinschaftsunterkünften bekommt das Ganze nochmal eine andere Tragweite. Homeschooling, fehlende Betreuungs- und Freizeitangebote, das Leben auf engstem Raum - da leiden vor allem die, die eh schon benachteiligt sind. Ein Großteil der Eltern der Kinder und Jugendlichen in Gemeinschaftsunterkünften kann den Schulstoff gar nicht stellvertretend vermitteln. Viele der Kinder und Jugendlichen hatten daher in den vergangenen Monaten kaum Möglichkeiten, mit dem Stoff mitzuhalten. Von Chancengleichheit kann man hier schlecht sprechen. Soziale Strukturen wie Kita, Schule oder selbst Sozialarbeiter_innen in den Einrichtungen fehlten corona-bedingt, um Probleme oder häusliche Gewalt in den Familien zu erkennen und zu intervenieren. Von den Kindern und Jugendlichen mühevoll erlernte Hilfestrukturen oder Kontaktstellen fielen weg und damit möglicherweise auch das Vertrauen. Man kann nur spekulieren, wie stark die Zahl der Fälle häuslicher Gewalt in der Corona-Anonymität zugenommen hat.
 
Was berichten euch die Kinder und Jugendlichen in den Unterkünften: Was sind ihre größten Probleme und Hindernisse im Alltag und beim Leben in der Gesellschaft? Gibt es Dinge, die dringend besser werden müssen?

Zur Schule gehen zu können, die Freizeit frei gestalten zu können, selbst zu entscheiden, welchen beruflichen Weg man einschlagen will, finanziell abgesichert zu sein sind wichtige Themen. Häufig haben wir gehört: „Das muss doch ein Geschenk für die Kinder und Jugendlichen sein!“ Tatsächlich merken wir bei den Workshops aber auch, dass die Kinder und Jugendlichen von ihrer neuen Lebensrealität teils überfordert sind.

Und woran liegt das?

Das liegt daran, dass gewohnte Denkmuster und Handlungsstrukturen, die bisher auch in schwierigen Situationen Halt gegeben haben, auf einmal nicht mehr funktionieren. Das sehen wir gerade bei Jugendlichen. In der Schule, im Freundeskreis und anderen sozialen Strukturen bekommen die Jugendlichen jetzt andere Werte vermittelt, als sie in der eigenen Kultur und Familie gelebt werden. Konkret sind das zum Beispiel die Rollen von Mädchen und Jungen, das Recht auf Freizeit, die Möglichkeit selber zu entscheiden, wohin man sich beruflich entwickeln möchte. Auch das Thema gewaltfreie Erziehung und Kommunikation bewegt die Kinder- und Jugendlichen.

Dank der Workshops und der Schule wissen viele der Teilnehmenden jetzt besser über ihre Rechte Bescheid. Wenn es darum geht, sich für ihre eigenen Rechte stark zu machen und den Balanceakt zwischen kultureller Identität und der neuen Lebensrealität hinzubekommen, brauchen die Kinder und Jugendlichen aber noch mehr Unterstützung. „Die Polizei rufen“ scheint für viele Kinder- und Jugendliche der einzige Weg zu sein, sich für ihre Rechte stark zu machen. Dieser Weg ist aber eben aus Angst vor Konsequenzen für Freund_innen, Verwandte und Familie auch der Grund, sich lieber gar keine Hilfe zu holen. Es ist wichtig zu zeigen, dass es dazwischen aber auch noch andere Wege und Mittel gibt. Da ist es besonders wichtig, Konfliktlösungskompetenz und gewaltfreie Kommunikation eigener Bedürfnisse zu vermitteln.
 
Ihr führt mittlerweile seit eineinhalb Jahren Workshops im Rahmen von „Our Rights in Action“ durch. Habt ihr den Eindruck, dass sich etwas in den Unterkünften verändert hat?
 
Im Rahmen der Workshop von „Our Rights in Action“ werden teils schwierige Themen angesprochen. Besonders auf individueller Ebene ist das Beziehungsarbeit, die Zeit braucht. Wir haben es geschafft, dass es in den Einrichtungen jetzt ein Grundverständnis für Kinderrechte gibt. Wir haben es außerdem geschafft, die Frustration und Resignation in eine Phase des Bewusstseins der Selbstwirksamkeit zu lenken: Insbesondere der Fakt, dass Kinderrechte in fast allen Ländern der Welt gelten, frustriert die Kinder im Hinblick auf ihre eigene Geschichte im Heimatland und das Erlebte auf der Flucht. Das ist ein sehr sensibles Thema. „In Afghanistan sind Kinderrechte nichts wert“, „was hilft ein Blatt Papier, wenn in meinem Land sich keiner daran hält“, sind Aussagen, die wir gehört haben. Diese empfundene Hilflosigkeit in Handlungsmöglichkeiten und ein Verantwortungsgefühl zu übersetzen, ist eine der wichtigsten Aufgaben in unseren Workshops.

Gelebte Kinderrechte sind leider in keinem Land selbstverständlich, auch wenn es so sein sollte. Wir tragen alle eine Verantwortung, dass die Rechte von Kindern gelebt und gestärkt werden. Auch die Kinder selbst. So haben wir in den Workshops die Kinder selbst zu Multiplikator_innen ihrer Rechte gemacht. Wir haben ihnen gezeigt, was ihre Rechte sind. Wir haben ihnen gezeigt, wo sie hingehen müssen, um sich Unterstützung zu holen und was sie selbst dazu beitragen können wenn zum Beispiel Kinder in ihrer Schule gemobbt oder diskriminiert werden. Dass das gelingt, haben wir unter anderem bei einem Folgeworkshop in einer Einrichtung gemerkt. Ein Mädchen hat uns ganz stolz berichtet, wie sie mit unseren Werkzeugen einer betroffenen Freundin im Umgang mit ihrer Lehrerin geholfen hat, die sie diskriminiert hat.

Wo seht ihr Kinderrechte besonders gefährdet?

Besonders schwierig und unvereinbar mit unserem Arbeitsauftrag empfanden wir die Arbeit in Notaufnahmeeinrichtungen. Hier hatten wir mit Kindern und Jugendlichen zu tun, die erst vor wenigen Wochen oder Monaten in Deutschland angekommen waren. Aufgrund ihres unklaren Abschiebungsstatus durften sie keine Schule besuchen. Sie konnten kein Deutsch und durften keinen Sprachkurs besuchen. Sie hatten keine finanziellen Mittel. Diesen Kindern und Jugendlichen etwas über ihre Rechte zu erzählen, ohne konkrete Instrumente und Hebel zu haben – die Sicherstellung ihrer Rechte durchzusetzen – war für uns absolut unvertretbar und sehr schmerzhaft. Es hat uns gezeigt, dass es auch in Deutschland noch große Anstrengungen braucht, um in Hinblick auf die Durchsetzung der Kinderrechte die Lücke zwischen Theorie und Praxis zu schließen.

Herzlichen Dank für das Interview!

Eindrücke aus dem Projekt "Our Rights in Action"