"Jugendliche müssen selbst entscheiden, was Beteiligung für sie ist"
Welche Rahmenbedingungen braucht junges Engagement und welche Chancen bietet ein Engagement jungen Menschen mit und ohne Fluchtbiografie? Darüber hat Jaqueline Kauka vom Landesjugendring Berlin im Interview mit dem Beratungsforum Engagement der Landesfreiwilligenagentur Berlin e.V. gesprochen.
Das Interview ist im dritten Handbuch des Beratungsforums Engagement für Geflüchtete erschienen und kann kostenlos heruntergeladen und in gedruckter Fassung bestellt werden. Wir veröffentlichen das Interview mit Jaqueline Kauka, die bei uns die Projekte "vom FÜR zum MIT" und "Jung, geflüchtet, selbstbestimmt" koordiniert hat, mit freundlicher Genehmigung des Beratungsforums.
BfE: Die Shell- Jugendstudie 2019 hat 2572 Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 12-25 Jahren interviewt. Das Ergebnis trägt den Untertitel „Eine Generation meldet sich zu Wort“. Denn die junge Generation formuliert eigene Ansprüche und fordert bereits heute die Weichenstellung für die Gestaltung der Zukunft. Haben Sie, die Jugendverbände und die Jugendbildungsstätten, es auch so wahrgenommen?
Wir waren nicht überrascht, dass junge Menschen ihre Stimme nutzen, um ihre Rechte einzufordern, geltend zu machen und zu schauen: ‚Wo habe ich Möglichkeiten zur Teilhabe und zur Beteiligung und wo sind mir diese Zugänge verwehrt?‘ Jugendverbände sind Selbstorganisationen von jungen Menschen und Interessenvertretung ist ein unabdingbarer Teil davon – schon immer. Deshalb finde ich es in dem Sinne keinen neuen Trend.
BfE: Vielleicht ein lauterer Trend?
Ich denke durch z.B. Fridays For Future sind gerade Protestformen noch einmal sichtbarer geworden. Und es ist großartig, was da gelungen ist: dass sehr junge, weltweit vernetze Bewegungen nach vorne treten, ihre Sichtbarkeit erkämpfen und auch halten.
Es ist immer eine Frage der Einordnung, ob man Engagement als Ausdruck von politischem Gestaltungswillen versteht. Jugendverbände machen schon seit Langem Aktionen und dadurch auf Missstände aufmerksam. Sie haben einen Blick dafür, was in der Welt passiert und was das mit ihnen macht, mit ihrer Zukunft, aber auch mit der Gegenwart. Würde stärker wahrgenommen, dass das ein politisches Statement ist, dann würde man vielleicht auch dazu kommen, dass Jugendliche schon immer ihre Stimme erheben.
Dabei gibt es gibt noch viel Luft nach oben, Jugendliche in Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen. Das eine ist es, wahrzunehmen, dass Jugendliche ihre Rechte einfordern und was ihre Forderungen sind. Das andere ist es, das so wahrzunehmen, dass man etwas damit macht und in politische Inhalte übersetzt. Das sind mehrere Schritte und ich finde es wichtig, sich das zu verdeutlichen.
BfE: Jugendliche fühlen sich laut der Shell-Studie nicht ausreichend gefragt und einbezogen, kritisieren das sogenannte Establishment in Politik und Gesellschaft. Wie kann man dem begegnen?
Die Frage ist: Wie entstehen Beteiligungsformate? Und wer hat sie sich ausgedacht? An vielen Stellen wird offensichtlich, dass Formate von Menschen entwickelt werden, die keine Jugendlichen mehr sind, die nicht merken, was jetzt passend wäre. Das fängt bei Uhrzeiten und Wochentagen an und geht bis zu der Frage, wie viele Ressourcen abverlangt werden – Jugendliche haben schon sehr viel zu tun, denn sie verbringen mehr als 35 Stunden in der Woche mit Schulaufgaben. Sehr sorgsam muss man auch damit umgehen, was Jugendliche für einen Gewinn haben. Beteiligungsformate können für junge Menschen sehr frustrierend sein: ‚Okay, jetzt werden wir mal wieder gefragt – und dann gibt es ein schönes Foto dazu.‘ Es beginnt bereits beim Gefragtwerden: Viel schöner ist es, selbst Themen zu setzen! Und das passiert ja, junge Menschen setzen Themen. Worauf es ankommt, ist die Wahrnehmung, die Anerkennung, die Wertschätzung und die Übersetzung in Inhalte.
Junge Menschen müssen selbst entscheiden können, was Beteiligung für sie ist und welche Form für sie die richtige. In Jugendverbänden geschieht schon viel. Junge Menschen bündeln ihre Stimmen und äußern ihre Interessen. Das ist ihr Raum, den sie sich geschaffen haben, er ist so gestaltet, wie junge Menschen ihn für sich möchten. Selbstgestaltet und selbstbestimmt an allen Stellen. Um es auf das Thema Engagement zurückzuführen: Engagement entsteht dort, wo Gelegenheit dafür geboten wird. Wo es einen Anlass gibt anzudocken. Der Anlass schafft den Zugang zum Engagement.
BfE: Jugendliche möchten selbstbestimmte Perspektiven für die Zukunft entwickeln – ganz unabhängig von ihrer Herkunft. Welche besonderen Herausforderungen kann es in der Arbeit mit jungen Geflüchteten geben?
Ich finde es ganz wichtig zu benennen, an welchen Stellen es nicht um Unterschiede geht: Junge Geflüchtete sind in erster Linie Kinder und Jugendliche, denen die gleichen Rechte zur Verfügung stehen müssen. Von dieser großen Gemeinsamkeit aller Kinder und Jugendlichen kommt man dann zu dem großen Unterschied: dass jungen Menschen mit Fluchtbiographie der Zugang zur Verwirklichung ihrer Rechte oft versperrt ist. In den Jugendverbänden beobachten wir, dass es Themen sind wie Abnabelung und Perspektiventwicklung, die jungen Menschen zunehmend wichtig sind: Dass es darum geht, überhaupt die gedankliche Freiheit zu haben, eine Perspektive zu entwickeln. Mehrere Optionen durchgehen, sich diesen Raum nehmen zu können. Und wir sehen auch, dass junge Geflüchtete nur sehr, sehr schwer in diese Lage kommen. Sie fangen an, ihre Zukunft aufzubauen, und stoßen dabei die ganze Zeit auf Ablehnung.
Das hat eine große Wirkmacht auf alle Beteiligten und auf verschiedenen Ebenen – ohne dabei in Frage zu stellen, dass die Leidtragenden die jungen Geflüchteten selbst sind. Es entstehen große Frustration und Depression. Die jungen Menschen stehen mit ihrer Frustration nicht allein da, und doch sind sie es, die wahnsinnig gefordert werden: Sie müssen mit Abschiebungen umgehen, mit dem Bewerbungsmarathon, sich Hilfe suchen, das Hilfesystem überhaupt erstmal verstehen. Sie müssen die Strukturen kennen, um Dinge umsetzen zu können – ich habe die erst im Studium kennengelernt!
BfE: Wie kann ein niedrigschwelliger Zugang für junge Geflüchtete in die Jugendverbandsarbeit gelingen? Wie sind die jungen Menschen in die Jugendverbandsarbeit gekommen?
Da gab es sehr unterschiedliche Wege. Was immer ähnlich bleibt bei jungen Menschen, ob mit oder ohne Fluchtbiografie, ist das Peer-to-Peer. Direkte Ansprache, direkter Kontakt und jemand, der fragt: ‚Magst du heute Abend mal mitkommen?‘ Das ist das, was am allerbesten funktioniert. Aufsuchende Arbeit, ein Angebot machen. Es braucht Personen, die ansprechbar sind und zu denen eine Beziehung entsteht.
In den Jugendverbänden wurde überlegt, wie wir noch weitere Unterstützungsformen anbieten können, um auf diese Unterschiede einzugehen und den existenziellen Fragen zu begegnen, die bei den jungen Geflüchteten größer geworden sind. In dem Projekt Vom FÜR zum MIT, das wir hatten, konnten zusätzliche Stellen in den Verbänden geschaffen werden, deren Inhaber*innen sich ausschließlich mit diesem Thema befassten. Als Hauptamtliche hatten sie Zeit und Ressourcen sich zu vernetzen, die jungen Menschen zu beraten und zu vermitteln. Wir haben gemerkt, dass es sehr wichtig ist, dass es Personen in den Verbänden gibt, die das leisten können.
BfE: Wo liegt die Stärke der Verbandsarbeit?
In Jugendverbänden schließt man sich zusammen, weil man gemeinsame Interessen hat. Menschen haben dort die Möglichkeit, nicht mehr die Person mit Fluchtbiografie zu sein. Es wurde mir von sehr intimen Momenten berichtet, wo das natürlich eine Rolle spielte und auch thematisiert wurde. Aber es kann auch einfach um die Sache gehen, um Urban Gardening oder eine gemeinsame Ferienfahrt, oder darum zu überlegen: ‚Wie funktioniert eigentlich Selbstorganisation? Probieren wir das doch mal an einem selbstorganisierten Wochenende aus!‘ Das sind Themen, die verbinden und ein Raum für Erholung sein können. Wo man sich auf Sachen konzentrieren kann, die einem Spaß machen. Zusammenschlüsse von jungen Menschen bieten den Zugang in die Lebenswelt von Gleichaltrigen.
BfE: Gibt es etwas an den Rahmenbedingungen in der jetzigen und zukünftigen Verbandsarbeit, was Sie sich wünschen? Wo müssen noch Ressourcen hinfließen?
Uns wurde zurückgemeldet, dass es vor allem viel Zeit und personelle Ressourcen braucht, um mit den Herausforderungen der jungen Menschen umgehen zu können. Es läuft immer wieder darauf hinaus: Personen, die ansprechbar sind und bei denen sich Expertise und Informationen bündeln. Das ist wahnsinnig wertvoll, sowohl für die existenziellen Fragen als auch für die Zugänge. Ansprechbar sein für pragmatische Dinge und Zeit für Beziehungsarbeit haben – für die Jugendlichen, die schon da sind und für die Jugendlichen, die neu dazugekommen sind. Beziehungsarbeit, die die Jugendgruppe auffangen kann, wenn z.B. ein_e Jugendliche_r der Gruppe abgeschoben wurde. Das geschieht. Und jedes Mal, wenn es geschieht, ist es zu oft geschehen und hinterlässt etwas.
Das Interview ist im dritten Handbuch des Beratungsforums Engagement für Geflüchtete erschienen und kann kostenlos heruntergeladen und in gedruckter Fassung bestellt werden.