Nahaufnahme eines Smartphone-Bildschirms mit verschiedenen App-Icons, darunter TikTok, Messenger und Telegram. Das TikTok-Icon ist besonders hervorgehoben.

Wir wählen, wer uns ernst nimmt: Ist TikTok an allem schuld?

„Die Jugend“ ist rechts und TikTok ist daran schuld. Was ist dran an dieser Erzählung nach der ersten Europawahl ab 16 Jahren, den Landtagswahlen in Ostdeutschland und vor der ersten Berlin-Wahl 2026 mit Wahlalter 16? Die Antwort: Wenig. Es gibt da vielmehr noch ein größeres Problem.

TikTok ist schuld. Ja genau, so mächtig ist die Plattform mit den Videoschnipseln inzwischen. TikTok ist daran schuld, wenn die AfD Wahlerfolge bei der Europawahl, in Thüringen, Sachsen oder Brandenburg feiert. Die Social-Media-Teams der AfD sind so verdammt gut, da kommt keine andere Partei hinterher. Deswegen haben gerade junge Wähler*innen ihre Stimme der AfD gegeben. Bei den Landtagswahlen holte die AfD bei der Gruppe der Unter-24-Jährigen tatsächlich einige Prozentpunkte mehr als in der gesamten Wähler*innenschaft. Und es stimmt: Rechtspopulistische und rechtsextreme Propaganda finden auf der Plattform erschreckend großen Anklang, auch bei jungen Menschen. TikTok aber als Ursache für ihr Wahlverhalten heranzuziehen, greift zu kurz.

Mit welcher Partei sollen sich junge Menschen identifizieren?

Während Talkshows, Leitartikel und Podcasts sich auf die Erzählung „die Jugend wählt jetzt rechts“ stürzen, wird eine Sache gerne vergessen: Bei der Europawahl 2024 wählen 84 Prozent der 16-24-Jährigen nicht die AfD, 69 Prozent sind es in Brandenburg. Die Mehrheit wählt demokratisch und hat Angst vor einem Rechtsruck. Natürlich sind die Stimmen junger Menschen für die AfD zu hoch. Natürlich sind die Zahlen erschreckend und besorgniserregend. Es zeigt sich aber auch, dass die jüngere Generation nicht grundlegend anders wählt als Ältere. Viele Ältere wählen schon längst rechtsextrem. Wieso erwarten wir von jungen Menschen, bessere Wahlentscheidungen zu treffen – ohne zu fragen, wer eigentlich ihre Vorbilder und Referenzen sind? 

71 Prozent der jungen Menschen glauben heute, Politik nicht beeinflussen zu können. Zu dem Ergebnis kommt der 17. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung. Was dort auch steht: Junge Menschen glauben nicht, dass sich die Politik für ihre Sorgen interessiert und sie wirklich ernst nimmt. Es ist ein fatales Zeugnis für eine repräsentative Demokratie, wenn sich ein Teil der Bevölkerung von den gewählten Politiker*innen nicht vertreten fühlt. Und wenn sich keine Partei ernsthaft für ihre Themen und Interessen einsetzt – mit welcher Partei sollen sich junge Menschen dann identifizieren? Junge Menschen sind heute parteipolitisch heimatlos, bei der Europawahl wählten 28 Prozent der 16-24-Jährigen eine Kleinstpartei. Gleichzeitig steigt das politische Interesse junger Menschen, wie die Shell Jugendstudie im Oktober 2024 zeigt: Während sich 2019 noch 36 Prozent über Politik informierten, sind es heute 51 Prozent.

Wahlalter 16 hatte keinen Einfluss auf Themen im Wahlkampf

Das gestiegene politische Interesse war auch vor der Europawahl 2024 spürbar: Erstmals galt dafür bundesweit Wahlalter 16. Unzählige Kampagnen zur Wahlmobilisierung junger Menschen fanden statt. Auch der Landesjugendring rief zur Wahl ab 16 mit einer aufwändigen Social-Media-Kampagne auf. Dabei ging es um Fragen zur Wahl und dem Ablauf, Errungenschaften Europas und Berliner Projekte, die ganz direkt von der EU profitieren. Ein FAQ auf der Landesjugendring-Website bot dazu eine Sammlung von Informationsmaterialien zur Europawahl für junge Menschen. 750 Plakate mit der Aufschrift „Wähl Europa mit 16!“ und Verweis auf das Website-FAQ gingen an Jugendverbände, Jugendfreizeiteinrichtungen und viele weitere Träger der Jugendarbeit in Berlin. 

Auf der großen politischen Bühne hatte das neue Wahlalter 16 allerdings praktisch keinen Einfluss auf Wahlkampfthemen. Und genau hier liegt das Problem: Wir können zwar zur Wahl mobilisieren, auf junge Menschen und ihre Bedürfnisse zugehen müssen die Parteien aber alleine. Das Feld sollte man nicht der AfD überlassen. Denn ihr Kerngeschäft ist es, gezielt Leute anzusprechen, die das Gefühl haben, vom politischen System vergessen worden zu sein.

Begeisterung für Demokratie neu entfachen

Und Berlin? Auch hier gilt bei der nächsten Abgeordnetenhauswahl Wahlalter 16. Die Parteien sollten sich gut überlegen, wie sie junge Menschen im Wahlkampf und bei ihrer Themensetzung berücksichtigen. Es kommt darauf an, dort zu sein, wo junge Menschen sind. Ja, auch auf TikTok, aber nicht nur: Es braucht Gesprächsbereitschaft auf Demos, im Jugendclub, im Jugendverband, in der Schule. Es braucht Identifikationspersonen. Dabei spielen das Alter, der Hintergrund und die Lebensgeschichte eine Rolle. Es braucht politische Angebote an junge Menschen, die sie wirklich in ihrer Lebenswelt abholen. 

Wer gewählt werden will, muss auf die Wähler*innen zugehen. Die Gruppe der jungen Wähler*innen mag zwar klein sein, sie aber frühzeitig und womöglich auch zukünftig an die AfD zu verlieren, ist zu riskant. 50 Prozent der jungen Menschen sind aktuell mit der Demokratie unzufrieden, so der Kinder- und Jugendbericht. Die Politik muss die Begeisterung neu entfachen. Wie das geht? Nehmt junge Menschen ernst. Hört ihnen zu. Beschäftigt euch mit Jugendpolitik. Seid Vorbilder als Demokratie-Fans. Achtet bei euren Vorhaben auf die Auswirkungen auf junge Menschen. Sie haben gerade nicht das Gefühl, dass sie eine Rolle spielen.